Mord: preisgekrönt
Der Abend ist garstig, irgendwie ungewohnt für März. Die Temperatur nach einem Kälteeinbruch nur wenig über dem Gefrierpunkt, der zügige Westwind treibt tiefhängende Wolken über den Himmel und den wenigen Fussgängern den Regen ins Gesicht.
Drinnen in der Laborbar ist die Temperatur angenehm, zumindest jene, die sich mit einem Thermometer messen lässt. Einzig das Sozialthermometer hat sich in den tief negativen Bereich zurückgezogen, konstatiert eine Stimmung irgendwo zwischen „frostig“ und „eisig erstarrt“. Versammelt in der Laborbar ist Zürichs literarische Elite, zumindest die des letzten Jahres, und auch nur, wenn man sich auf Krimis fokussiert. Der Zürcher Krimipreis wird verliehen. Nominiert: die Ziege, die Mimose und der Besserwisser. Natürlich heissen sie nicht so, prangen auf den Deckeln ihrer Werke richtige, bürgerliche Namen, doch in der Jury des den Krimipreis ausrichtenden Trägervereins haben sich obige Namen relativ schnell durchgesetzt.
Es sind keine Unbekannten, nicht hier in der Laborbar, sie alle waren im Laufe der letzten Jahre bereits einmal für den Krimipreis nominiert, waren in der Top Drei, ohne den Preis jedoch abzuholen. Die Reaktion auf die scheinbare Schmach hat wesentlich zur kreativen Namensgebung der Jury beigetragen. Dort war man natürlich „not amused“, als man nach stundenlanger Lektüre feststellen musste: doch, es sind die Bücher der Ziege, der Mimose und des Besserwissers, die heute Abend auf den Schild gehoben werden sollten. Denn anders als deren Verfasser sind die drei Werke eine Freude für den Leser. Die Ziege hat die geniale Geschichte einer verzwickten Intrige in Zürichs Bankenwelt mit meisterlicher Präzision komponiert, die Mimose – der eigentlich Mimoserich heissen müsste, denn es ist ein Mann, aber das geht ja nicht, nicht bei einem der Sprache gewidmeten Kulturpreis! – hat ein zu Tränen rührendes Epos über Zürichs dunkelste Vergangenheit erschaffen und dabei geschichtliche Fakten und kriminalistische Spannung gekonnt verwoben.
Bleibt noch der Besserwisser. Er stand auf der Kippe. In vielerlei Hinsicht. Sie wollten ihn eigentlich Klugscheisser nennen in der Jury, fanden das dann aber doch zu vulgär, die Argumentation folgte ähnlichen Linien wie beim Mimoserich. Womit die Sache bald geklärt war. Nun, der Besserwisser hat wirklich einen ganz netten Krimi geschrieben. Mehr als nett eigentlich, da waren sich alle in der Jury einig. Raffiniert aufgebaut, falsche Fährten, ein paar gekonnte Wendungen und am Schluss die für Krimis so wichtige Stirnklatsche, die man sich als Leser selber gibt: man hätte es wissen müssen!
Alles gut also. Bis auf den Polizisten, die Hauptfigur. Ein Besserwisser, wie er im Buche steht, und das tut er ja tatsächlich. Die Jury ist sich einig: der Besserwisser hat sich selbst in sein eigenes Buch geschrieben, hat mit der Schambefreitheit des Bald-Rentners seine pubertären Fantasien zu Papier gebracht, nur halbherzig als Literatur getarnt. Vor allem bei jener Szene, in welcher der dickbauchige und glatzköpfige Bulle mit seiner attraktiven, vollbusigen und blonden Affäre eine heisse Liebesnacht verbringt, die etwas zu detailliert beschrieben ist. Völlig realitätsfremd, befanden die Damen der Jury, das gibt’s nur in Männerträumen und Pornos. Die Männer in der Jury waren der Ansicht, dass ein Bulle dafür zu wenig verdient.
Der Besserwisser flog wegen dieser Szene um ein Haar aus dem Finale. Doch einen der anderen Autoren nominieren? Die Diskussionen zogen sich hin, wurden emotional geradezu, doch am Ende setzte sich nüchterne, objektive Ratio durch. Der Krimi des Besserwissers ist schlicht besser als alle möglichen Alternativen, das allein zählt. Ausserdem, das weiss natürlich nur die Jury, wird er den Preis sowieso nicht gewinnen.
Darum also ist er hier, sitzt mit der Ziege und der Mimose auf der Empore der Laborbar, abgeschirmt vom langsam eintrudelnden Publikum, wo sie des Schriftstellers liebstem Hobby nachgehen. Sie lästern über die Werke anderer Autoren und trinken ein Cüpli. Dies allerdings aus vollkommen unterschiedlichen Gründen: Die Mimose braucht das Cüpli – genau genommen sind es mehrere – damit seine Hände nicht schlottern, wenn er nachher auf der Bühne das Innerste seiner Gefühlswelt durch den vorgelesenen Text dem Publikum offenbart. Die Ziege trinkt das Cüpli vor allem deshalb, weil es umsonst ist. Sie hat fünfzehn Jahre in Berlin gelebt und die deutsche Hauptstadt hat nicht nur ihren Intellekt auf ein ganz neues Niveau angehoben, sondern ihr auch einen Hauch Geiz-ist-Geil-Mentalität eingeflösst. Der Besserwisser seinerseits mag eigentlich gar kein Cüpli, er trinkt es trotzdem, vor allem deshalb, damit er mehrfach und dezidiert darauf hinweisen kann, dass hier Prosecco gereicht wird, kein echter Champagner, und dass diese Tatsache allein den Zürcher Krimipreis in zutiefst lokalem, in der Essenz irrelevantem Milieu verortet. Schliesslich muss man vorbereitet sein, falls man nicht gewinnt.
Doch jetzt geht es los, endlich. Nur die Mimose gäbe es zu, aber auch die beiden anderen bemerken es: die Spannung steigt! Unten beginnt der Moderator mit seiner Einführung. Er arbeitet beim Schweizer Fernsehen, sieht sich gerne und hört sich gerne. Die Jury hätte eigentlich lieber einen anderen gehabt, den vom letzten Jahr, aber da die diesjährige Ausgabe des Krimipreises sowieso unter sozial ungünstigem Stern zu stehen schien, hat man sich rasch gefügt. Augen zu und durch, so das Motto in der Jury.
Nach zehn Minuten dann endlich: Auftritt des Besserwissers. Die beiden Alpha-Gockel liefern sich ein winziges Kräftemessen, strecken die Brust raus und messen sich mit einem martialischen Händedruck. Das kleine Duell geht unentschieden aus: des Moderators Hand macht als erste schlapp, dafür ist er fünf Zentimeter grösser und kräftige zehn Kilo schwerer als der im direkten Vergleich verschrumpelt wirkende Besserwisser. Der punktet jedoch in der Kategorie Langatmigkeit und sprengt sämtliche Zeitvorgaben der Jury, schliesslich hat er viel zu sagen. Das Publikum schaltet relativ rasch in den Überlebensmodus, hinter leeren, interessiert wirken sollenden Gesichtern werden Ferienplanungen und Einkaufslisten durchdacht. Nur in den hintersten Reihen getraut man sich, die Augen zu schliessen und zu dösen.
Als die Mimose die Wendeltreppe von der Empore hinabtänzelt, ist die Veranstaltung bereits fünfzehn Minuten hinter dem Zeitplan. Doch die Mimose bemüht sich redlich, dies wieder geradezurücken. Mit vor Aufregung kieksigem Stimmchen japst er sich durch die vorbereitete Textstelle und beantwortet die Fragen des Moderators so knapp wie möglich. Dieser verzichtet aus Mitleid auf die letzte Frage, entlässt die Mimose in den rettenden Sessel am Bühnenrand und ruft die Ziege auf.
Nichts passiert.
Der Moderator lacht ins Publikum, getraut sich noch nicht, die Ziege erneut aufzurufen. Neben der Bar werfen sich die Mitglieder der Jury wissende Blicke zu, gepaart mit Augenrollen der Extraklasse. War ja klar, dass die Ziege einen besonderen Auftritt inszenieren würde.
Als ein wenig Unruhe aufkommt und scharrende Füsse ein aufwachendes Publikum signalisieren, ruft der Moderator die Ziege erneut auf. Lauter diesmal, noch nicht ganz mit seiner Feldweibel-Stimme, aber nicht mehr weit davon entfernt.
Noch immer geschieht gar nichts, durch das Publikum raunt eine erste Woge Gelächter.
Dann Schritte auf der Treppe, welche hinter der Bar zu den Toiletten und zur Empore führt. Jasmin Sonderegger, Präsidentin des Vereins „Zürcher Krimipreis“, hastet nach oben, dank hochhackiger Pumps für jeden im Raum überdeutlich hörbar. Nur die Flüche, die sie dabei erzürnt in sich hineinmurmelt, bleiben privat.
Oben ist das Licht schummrig, von unten strahlt die Bühnenbeleuchtung; als sie über das Geländer blickt, sieht die Präsidentin den Moderator, der unten steht und nach oben schaut. Dass das gesamte Publikum es ihm gleichtut, weiss sie, ohne es zu sehen. Sie stürzt auf die Empore.
Die Ziege liegt am Boden, den Mund weit aufgesperrt, um ihren Hals eine tief ins Fleisch getriebene Drahtschlinge, in ihrer verkrampften Hand das – jetzt kann man es ja sagen – preiszukrönende Werk.
Eine Sekunde wankt die Empore unter den Füssen der Präsidentin, sie muss sich am Geländer festhalten, während sie ihre freie Hand auf den Mund presst, um den Schrei einzusperren, der sich gewaltsam einen Weg ins Freie bahnen möchte.
Es ist genau so wie im Roman, ein exaktes Abbild jener Szene, welche die Ziege in ihrem eigenen Krimi beschrieben hat. Die Präsidentin kann es mit Sicherheit sagen, sie hat den Roman einmal verschlungen und einmal gelesen, beide Male ist die Szene mit dem am Boden liegenden, erdrosselten Opfer in gewaltiger Farbenpracht vor ihrem inneren Auge entstanden, mit ein Grund dafür, dass die Ziege den Krimipreis hätte gewinnen sollen.
„Jasmin?“
Von unten dringt schwach die Stimme des Moderators an ihr Ohr, er kann sie sehen, wie sie keuchend am Geländer lehnt, die Hand vor den Mund gepresst. Seine Stimme schwankt irgendwo zwischen fragend und besorgt, das Publikum wird von Unruhe erfasst, ein Lautteppich aus gemurmelten Worten liegt plötzlich in der Laborbar, doch auf diesem Teppich liegt bleiern die Stille auf der Empore, sie geht von der toten Frau am Boden aus und frisst sich in die Präsidentin des Vereins „Zürcher Krimipreis“ hinein.
‚Ich sollte etwas tun‘, denkt Jasmin Sonderegger. ‚Die Polizei rufen. Die Ambulanz. Um Hilfe schreien. Einfach irgendetwas tun.‘ Gleichzeitig rauschen in ihrem Kopf die Gedanken. ‚Es muss die Mimose gewesen sein! Der Mörder ist immer noch hier! Ich bin die Nächste!‘
Doch sie ist wie gelähmt, das alles fühlt sich unwirklich an, wie in einem Krimi, genau genommen wie im Krimi der Ziege, als habe dieses unbestritten geniale Werk sie angesaugt, in sich aufgenommen und in seine komplexe Handlung einbezogen.
Erst als der Moderator erneut ihren Namen ruft, kann sich Jasmin Sonderegger losreissen. Sie taumelt zur Wendeltreppe, auf welcher die Ziege hätte ihrem Preis entgegengehen sollen. Zögernd setzt sie einen Fuss vor den anderen, es ist totenstill in der Laborbar, alle wissen, dass irgendetwas Schreckliches geschehen ist, die Augen aller kleben an der Präsidentin, die langsam die Treppe hinabkommt.
Dann ist Jasmin Sonderegger unten, käseweiss im Gesicht, die Augen weit aufgesperrt, mit eisernem Griff hält sie sich am Geländer fest.
„Sie ist tot!“, kreischt es schrill aus ihr heraus. „Erdrosselt wie in ihrem eigenen Krimi!“
Dann packt ein irres Lachen die Präsidentin des Vereins „Zürcher Krimipreis“, sie will dagegen ankämpfen, doch ohne Erfolg. Es packt sie, schüttelt sie, dieses wahnsinnige Gelächter, das aus ihr herausbricht und einfach nicht mehr aufhören will.