Züricher Krimipreis

Mord: preisgekrönt – Teil 4 – Finale

 

Blaulicht. Das Flackern und Blinken nähert sich. Kurz eine Sirene. Vier Streifenwagen versperren die Zufahrt zur Labor-Bar: Zwei riegeln die Ecke Schiffbaustrasse/Hardstrasse ab, zwei die Richtung zum Turbinenplatz..

Der ganze Perimeter abgesperrt. Niemand kommt raus.

Autotüren knallen. Im gelben Licht der Strassenlampen verteilen sich die Einsatzkräfte im garstigen Märzabendwetter. Jetzt zwei Zivilfahrzeuge.

Ein Blick links, ein Blick rechts, Werner Bretscher, Ermittler der Kantonspolizei, Abteilung Gewaltverbrechen, nickt den Kolleginnen und Kollegen zu, die sich links und rechts der Glastür der Bar aufgestellt haben, und dringt ins Gebäude ein. Mit ihm vier Zivile und sechs Uniformierte.

Gopferteckel, denkt Bretscher, ein Tötungsdelikt bei einem Kulturanlass? Sachen gibt’s, denkt er.

Den kleinen Vorraumschlauch durchschritten, rechts durch die Tür in den grossen Veranstaltungsraum. Erster Eindruck: Kleinholz. Das haben die Leute aus dem Mobiliar gemacht. Stühle, Gläser, ein Mikrofonständer, ein Scheinwerfer.

Es blitzt. Und noch einmal.

«Halt!», ruft Bretscher dem Blitz entgegen, «keine Fotos jetzt.» Und mit einer Handbewegung weist er die Fotografin an, ihrem Gewerbe nicht mehr nachzukommen.

Eine Frau in hochhackigen Schuhen, verrutschte Bluse, zerzaustes langes Haar, stellt sich ihm entgegen und öffnet den Mund.

«Bretscher, Kantonspolizei», übernimmt er sofort die Initiative, «sind Sie hier verantwortlich?»

«Ja», sagt Jurypräsidentin Jasmin Sonderegger, «leider.»

Und sie sagt ihm gleich, dass oben «die Ziege» tot in ihrem Blut liege.

«Die was?», fragt Bretscher, weil die Polizei braucht richtige Namen.

«Melody Rüegg», erklärt die Jurypräsidentin.

Bretscher ein Handzeichen an seine Kollegen, den WD schickt er sofort die Treppe hoch, den Wissenschaftlichen Dienst. Und selbst befragt er nun Frau Sonderegger.

«Ah, das zehnte Mal heute diese Krimisache, diese Preisverleihung? Und jetzt der erste Todesfall. Insgesamt 30 Nominierte, wovon jetzt eine tot? Das macht eine Quote von 3.33% Ermordeten … statistisch ist das nicht wenig.»

Gefährlich runzelt Bretscher die Stirn und zieht die Augenbrauen hoch. Und will jetzt von Frau Sonderegger Wahrnehmungen und Informationen erfragen. Sie antwortet zuerst literarisch: Die Todesumstände gleichen auffällig denen der drei Bücher, die die Jury dieses Jahr nominiert hat, sagt sie.

Im Roman der Toten Melody Rüegg werde das Opfer ebenfalls garottiert, d.h. mit einer Drahtschlinge um den Hals erdrosselt.

Im Roman von Michael Bosshard («Mimoserich») werde dem Opfer ebenfalls eine Schraube in den Nacken gedreht.

Im Roman von Leonhard Salvi («Besserwisser»), der sich «Lenny» nennt, um sich drei Jahrzehnte jünger zu machen, werde das Opfer ebenfalls ausgeweidet, als wäre es ein Kaninchen vom Helvetiaplatzmarkt.

Nun streicht sich Sonderegger eine Strähne aus dem Gesicht, und Kriminalpolizist Werner Bretscher kratzt sich an der Nase.

«Danke für Ihre Hilfe», sagt er zur Jurypräsidentin, und er denkt noch einmal «Gopferteckel», weil «Cui bono?», fragst du dich als Polizeimann immer: Wem nützt’s?

Ein Psychopath? Zum Glück selten. Tötungsdelikte sind meist Beziehungstaten. Hässlich. Aber meist brauchst du nur den Mann oder Ex-Mann, Freund oder Ex-Freund des Opfers festzunehmen, zu befragen und von der Spurensicherung untersuchen zu lassen und, bingo, deine Aufklärungsquote bleibt makellos. Aber hier diese literarischen Querverweise. Wird das kompliziert?

Routine bedeutet Sicherheit. Zuerst deshalb die Standardfrage: Wer stand mit der «Ziege», pardon: mit Melody Rüegg, in Beziehung? Geschäftlich, privat, freundschaftlich, feindlich? Zu wem hatte die Tote zu Lebzeiten näheren Kontakt?

Sicher zur Verlegerin und zur Lektorin.

Der «Besserwisser» Salvi und der «Mimoserich» Bosshard waren die Konkurrenten im Wettbewerb um den zehnten Zürcher Krimipreis.

Eine Partnerin oder ein Partner? Jasmin Sonderegger weiss nichts und sagt zum Polizeimann: «Glauben Sie mir, ich wüsste das.»

Eine dreifache Tötung, genauer gesagt: dreifach begangen an ein und derselben Person. Freitagabend im März, draussen Hudelwetter, hier drin in der Labor-Bar die Luft feucht vom Atmen und Schwitzen der Anwesenden vor Angst und Scheinwerferhitze.

Dreifache Tötung bedeutet Overkill, Overkill bedeutet Hass, denkt Bretscher, immerhin ein Hinweis.

Jetzt wird die Labor-Bar durchkämmt. Feinmaschig. Im Gebäude halten sich schätzungsweise 150 Personen auf. Darunter höchst wahrscheinlich die Täterschaft. Hunderte von Stunden Befragungen, Tausende von Seiten Vernehmungsprotokolle, Dutzende von Tassen Automatenkaffee drohen – und Burnout. Bretscher weiss, wovon er spricht. Im Erdgeschoss, dem Veranstaltungsraum, haben die Kolleginnen und Kollegen mit der Aufnahme der Personalien und ersten Einvernahmen begonnen.

Hinter Bretscher räuspert sich jemand.

«Schau an, Jimi», begrüsst er den Innendienst-Kollegen, «was machst du denn hier?»

«Ich bin Jurymitglied. Und ich habe versucht, hier etwas Ordnung zu schaffen, nachdem …»

«Danke», sagt Werner Bretscher, lässt Jimi Weber Jimi Weber sein und steigt die Treppe hoch zur Empore über der Labor-Bar. Betonboden, Stahlträger, postindustrieller Chic, Vintage-Sofas. Der WD ist an der Arbeit. Tatort sichern, Spuren erheben. Ausleuchten, Fotografieren, die Leiche abkleben. Der Rechtsmediziner trifft ein. Die Leiche sieht grausig aus.

 

Mitternacht ist längst vorbei.

Die meisten Veranstaltungsbesucher durften gehen, weil Identität unzweifelhaft und kein auffälliges Verhalten festgestellt. Andere sind dageblieben, müssen dableiben, weil hundertsechsundvierzig Personen zu befragen, dafür ist das Personalbudget der Polizei nicht ausreichend ausgestattet. Die beiden überlebenden Nominierten, Michael Bosshard und «Lenny» Salvi, sind noch im Saal. Unmittelbar vor der Bühne sitzen sie auf den dunklen Schalensitzen, zwischen ihnen der Fernsehmann, und jeder der beiden Autoren hofft, dass ihm und nur ihm allein jemand endlich die Nachricht überbringen möge, er sei der Gewinner des zehnten Zürcher Krimipreises. Dreitausend Franken und eine Portion Würdigung, wer kann das nicht brauchen? Ständig schauen sie zu den Jury-Mitgliedern hinüber, die einige Meter entfernt herumflattern und aus naheliegenden Gründen damit überfordert sind, ihrem Auftrag als Organisatoren des Anlasses gerecht zu werden. Auch noch vor Ort: die Lokaljournalistin Lea Dörig, weiterhin in der Hoffnung auf die Story schlechthin.

Auf der Empore liegt bäuchlings die Leiche Rüegg. Polizeimann Bretscher sieht, dass Kollege Milosavljevic zwei Frauen zur Befragung nach unten führt, die sich hier oben aufgehalten haben: Nora Bossung und Jutta Kleinhans, Verlegerin und Lektorin des Opfers, wird er später erfahren. Bretscher betrachtet die Leiche, ihre Lage, das Licht, die Sofas, links auf einem Korpus Metallplatten mit Wurstwaren, Käse und Brot, Weinflaschen, geöffnete und verschlossene. Oliven. Prosecco.

Er verspürt Harndrang. War auch heute etwas zuviel Kaffee, um alert und wach zu bleiben. Harndrang. Wohin? Ein Schild weist den Weg. Die Toilette befindet sich ebenfalls hier im oberen Stock. Seit dem Eintreffen der Polizei hat niemand Zutritt. Bretscher drückt die Tür auf, ein dunkler Raum, nur einige Punktstrahler Licht. Rechts das Lavabo, links das Pissoir und die WC-Kabine. Er drückt die Türe auf,  geht hinein, klappt den Deckel hoch, löst den Gürtel, hält inne.

In der Kloschüssel, durchnässt, aber nicht hinuntergespült, ein Hemd: ultramarinblau mit Muster in anderen Blautönen. Und – bei diesem schummrigen Licht erahnt er sie mehr, als dass er sie positiv identifizieren könnte: Blutflecken.

«Komm doch bitte her, Janko!», ruft er dem Kollegen vom WD zu, der einige Meter entfernt vor der Toilettentür bei den Sofas zugange ist. Das Hemd ruft nach DNS-Analyse. Blut von Frau Rüegg? Hautpartikel oder Haare des Täters oder der Täterin?

Der Kollege sichert das Kleidungsstück. Wird es von der Labor-Bar ins Polizei-Labor schicken.

Ein Hemd, weggeworfen, weil durch Spuren kompromittiert oder kontaminiert? Ein dilettantischer Entsorgungsversuch, denkt Bretscher. Jemandem muss es fehlen, dieses Hemd. Trägt jemand, der sich unten in der Bar aufhält, keines?

Bretscher steigt von der Empore wieder ins Erdgeschoss hinunter. Überschaut und beobachtet von der halben Treppe aus die geschmolzene Gruppe der Anwesenden. Alle plusminus schön gekleidet, weil ein plusminus gediegener Anlass, diese Krimipreisverleihung. Alle bekleidet.

Wenn der Täter einer von denen ist, hat er ein Ersatzhemd mitgebracht, um zu delinquieren? Also Vorsatz? Oder hat er ohnehin situationsbezogen Ersatzkleidung dabei? Jemand, der gut aussehen will – vor Publikum …?

 

Dem Polizeimann fällt auf: Auf einem der dunklen Schalensitze, neben dieser Fernsehperson, wie heisst er noch? … auf einem der Schalensitze hängt schlaff ein Mann in einem kurzärmeligen T-Shirt, auch meteorologisch unangemessen, ausgebleicht und ausgeleiert. Eklatanter Kontrast zur eleganten Hose und den edlen Lederschuhen. Vor ihm auf dem Boden, zerknüllt jetzt, wohl daraufgetreten, weil sichtlich angetrunken, ein Jackett, das nicht nach Outlet aussieht.

Einige Schritte zu ihm hin, vom Gürtel löst Bretscher die Handschellen, klick klack um die Handgelenke des schlappen Mitbürgers. Der schreckt bei dieser Aktion aus dem Alkoholnebel auf, «he», ruft er. «Oooh» raunen die Anwesenden und applaudieren der Polizei. Lea Dörig fotografiert wieder, zwei, drei, vier Blitze. Während zwei Uniformierte den Festgenommenen abführen, fragt Bretscher die Lokaljournalistin nach Aufnahmen vom früheren Abend, bevor das Verbrechen geschah. Sie hat welche: Die Labor-Bar noch ohne Publikum, der Techniker, der die Mikrofone für die Tango- und Jazz-Band einrichtet, die Bar-Equipe. Auf dem Kamera-Bildschirmchen schaut Bretscher die Bilder durch. Dann die hochhackige Jury-Präsidentin im Gespräch mit Jimi Weber, dem Kapo-Innendienstler. Und jetzt! Hier! Die Nominierten treffen ein, zuerst die Leiche Rüegg, noch lebend, flankiert von Verlegerin und Lektorin, darauf einer … in eleganter dunkelgrauer Hose, mit Jackett und spitzen Schuhen … er trägt ein ultramarinblaues Hemd mit blauen Strukturen … wie es oben in der WC-Schüssel lag, zu sperrig, um ins Arcanum der Stadtzürcher Kanalisation zu entschwinden.

Michael Bosshard.

Der Mimoserich.

Zehn Minuten, während unten «Lenny» Salvi seinen Text vortrug und der Moderator … genau, Hasso heisst er … ihm unter beidseitigem Dauerlächeln drei Fragen stellte, war Bosshard allein auf der Empore mit dem Opfer Melody Rüegg. In zehn Minuten kannst du jemanden zehnmal töten.

 

Erkenntnisse aus der polizeilichen und rechtsmedizinischen Untersuchung. Tötungsmethoden: Anzahl: drei. In chronologischer Reihenfolge: Garottieren mit Drahtschlinge (führte den Tod herbei); Holzschraube 90mm, verzinkt mit Flachkopf, in den Nacken des Opfers gedreht; mit spitzem Gegenstand (vermutlich Skalpell) Körper von Brustbein bis Scham aufgetrennt und Organe entnommen. Noch ungelöst: Verbleib dieser Organe, genauer Tathergang. Tötungswerkzeuge bzw. -waffen: oben erwähnt, vom Täter mitgebracht. Also vorsätzliche Tat.

Motiv, eruiert in insgesamt 26 Stunden Täterbefragung: Hass. Nähere Begründung: Missgunst unter Autorinnen und Autoren. Kernaussage: «Die anderen bekommen stets mehr Beachtung und verkaufen mehr Bücher. Obwohl sie nur Schrott und Schwachsinn und einen grässlichen Stil schreiben und von nichts eine Ahnung haben», sagt Bosshard.

Beweismittel: sichergestelltes Hemd mit Blutflecken des Opfers und Hautpartikeln des Täters; Foto des Täters mit dem Hemd; die Aussagen des Täters Michael Bosshard. Die DNS-Analyse wird zwei Wochen später die letzten Zweifel beseitigen.

 

Folgen des Tötungsdelikts. Melody Rüegg gewinnt für ihren Roman «Banker-Blei am Bleicherweg» als erste Autorin überhaupt den Zürcher Krimipreis postum. Nora Bossungs Kleinverlag verkauft endlich mehrere hundert Exemplare früherer Krimis der Preisträgerin. Mehr nicht, denn der nächste Aufreger folgte bereits zwei Tage danach: Der sympathische Hund eines Lokalpolitikers starb! Diese erschütternde Nachricht verdrängt das tragische Ende der Krimiautorin aus den Zeitungsspalten und ins Archiv der Internetportale. Lokaljournalistin Lea Dörig konnte dem Tages-Anzeiger tatsächlich einen grösseren Bildbericht verkaufen («Im Labor des Schreckens»). Mehr war des verstorbenen sympathischen Hundes wegen für sie nicht herauszuholen. Ermittler Werner Bretscher und sein Team haben diesen Fall beinahe abgeschlossen. Möglicherweise haben sie etwas Spielraum, um einige Stunden bei administrativer Arbeit durchzuatmen, bis das nächste Verbrechen folgt.

Und nicht zuletzt: In Internetmedien hält sich hartnäckig die Theorie, die Jury des Zürcher Krimipreises habe über Hypnose Michael Bosshard als Mörder gedungen, um den Krimipreis in die Schlagzeilen zu bringen. Denn Jurypräsidentin Jasmin Sonderegger sei nicht zufällig PR-Beraterin. Und mit dem Verkauf der entnommenen Organe habe sie eine Stange Geld verdient, um das Bestehen des Krimipreises für die nächsten Jahre zu sichern.