Züricher Krimipreis

Mord: preisgekrönt Teil 2

»Los jetzt. Gib dir einen Ruck. Du musst etwas tun!«, sagt sich Jimi Weber und poliert mit seinem Hintern nervös den Sitzwürfel, auf dem er sitzt. »Für irgendetwas bist du doch in dieser verdammten Jury. Ja?«

Jimi ist tatsächlich Jury-Mitglied. Aber da er ein ausgesprochener Langsamleser ist, hat er von den 23 Züri-Krimis, die es in diesem Jahr zu beurteilen gab, nur deren drei und einen, in seinen Augen schlechten, halb gelesen. Vor einem Jahr hatte er fünf geschafft. Darum ist Jimi in der Jury mehr als Berater in Sachen ›Wie realistisch ist das denn?‹ zuständig. Er berät die anderen Jury-Mitglieder bei Fragen, wo ihnen ein Fall oder ein Ermittlungserfolg allzu fantastisch erscheint. Denn Jimi Weber ist im wirklichen Leben Polizist. Genauer Kriminalpolizist. Zwar irgendwo im Innendienst, aber trotzdem bei der Kripo. Und er weiss, er sollte jetzt etwas tun. Aber was? Er hatte doch keine Erfahrung im Aussendienst. Höchstens die, welche er in den dreieinhalb Krimis gesammelt hat. Unternehmungslustig springt er vom Sitzwürfel auf und ruft laut ins Auditorium, so dass ihn jeder hören kann: »Mord?«

Darauf ist es im Labor so still, dass man die Träne, welche Jasmin Sonderegger für die dahingeschiedene Ziege vergiesst, auf den Fussboden klatschen hört.

Irgendjemand im Raum schreit jetzt ebenso hysterisch: »Terror!«

In Panik springen die Besucher von den Stühlen und erheben ebenfalls ihre Stimmen. Ein Riesenlärm. Der Hinterste und Letzte ist wieder aufgewacht. Eine Frauenstimme überschlägt sich: »Mudschaheddin!« Es folgt ein Hustenanfall. Jeder versucht noch lauter zu brüllen und sich vor dem IS-Angriff in Deckung zu bringen. Die Antwort kommt postwendend: »Dschihad!« Einer ruft: »Alles Arschlöcher!« Die Ereignisse überstürzen sich. Tumultartige Szenen und ein weiterer Idiot weiss nichts Besseres, als die Hauptsicherung herauszudrehen.

Dann ist es dunkel im Labor.

Sogar die Notbeleuchtung hat sich verabschiedet. Das Chaos ist perfekt und das Labor kocht. Die Besucher drängen zum Ausgang oder dahin, wo sie meinen, dass er sei. Jimi Weber wird von der Stampede von den Füssen gerissen. Auf dem Bauch liegend hofft er, dass endlich jemand die Polizei ruft. So ganz am Boden, den Kopf zwischen den Armen, wird ihm klar, was die Sonderegger eigentlich gerufen hatte: »Erdrosselt wie in ihrem eigenen Krimi!« Somit weiss Jimi endlich, wie das vierte, halbgelesene Buch ausgeht. Doch er versteht immer noch nicht, warum die Sonderegger so für diesen miesen Krimi geweibelt hat.

Der Chef hatte sie für einen Bericht abbestellt. Der Tagi wollte etwas bringen, hatte er gesagt. Von wegen Lokalkultur und so. Dafür eigne sich der Zürcher Krimipreis besonders, denn jeder Tote belebe das Blatt. Und da es den Preis nun schon seit zehn Jahren gibt, sind auch zehn Zeilen drin. Vielleicht noch ein kurzes Interview mit dem Gewinner. Sie hatte die Kamera mitgebracht und bereits ein paar Bilder geschossen. Vielleicht schafft sie es, auch ein Bild in der morgigen Ausgabe zu platzieren, was sich gut auf ihr Bankkonto auswirken würde. Lea Dörig schmiegt sich an die Laborwand und hustet. Sie kann sich nicht erinnern, jemanden mit einem Turban gesehen oder gar fotografiert zu haben. Aber was soll’s, mit dieser heissen Story vom preisgekrönten Mord sind bestimmt noch ein paar Zeilen mehr drin! Wenn nicht gar die Titelseite. ›Taliban sprengen Labor!‹, ›Krimi-re-al-fall!‹ oder ›Horror-Labor!‹ Lea denkt sich schon einmal Headlines aus. Zufrieden reibt sie sich die Hände und lauscht gespannt den Ereignissen in der Dunkelheit. Man muss sich nur zu helfen wissen, denkt sie. Und das hier sind ganz bestimmt keine ›Fake News.‹

»Geschieht ihr ganz Recht. Blöde Kuh!«, der Mimoserich ist fest davon überzeugt, dass ihm die Ziege den Plot ihres Krimis geklaut hatte. Er hätte beim Krimi-Autoren-Stammtisch die Schnauze halten sollen. Murrend bringt er sich hinter der Bar in Deckung. Eine gute Wahl, denn es stehen genügend Flaschen im Regal, um auch eine längere Belagerung zu überstehen.

Etwas kracht neben Lea Dörig an die Wand. Die Besucher haben in ihrer Wut damit begonnen, das Labor auseinanderzunehmen. Kaum hat sich Lea vom Schreck erholt, fliegt ein Sitzwürfel auf sie zu. Getroffen geht auch sie zu Boden. Gleichzeitig hört man, wie Aeschbachers Deko in die Brüche geht.

Auch der Besserwisser versucht sich in Sicherheit zu bringen und wendet sich zur Treppe. Doch schon auf der ersten Stufe stolpert er über hochhackige Pumps. Jasmin Sonderegger krallt sich immer noch wie versteinert ans Geländer. Hätte er es besser gewusst, hätte er beim Fallen nicht versucht, sich am Busen der Präsidentin des Vereins ›Zürcher Krimipreis‹ festzuhalten. Entsetzt durch die grabschenden Hände knallt sie dem Bedränger, obwohl sie ihn nicht sehen kann, die flache Hand ins Gesicht. Der Besserwisser krümmt sich, dabei löst sich aus der Tiefe seines Magens ein übler Falscher-Champagner-Rülpser.

Endlich geht das Licht wieder an.

Kein einziger Taliban-Kämpfer ist zu sehen. Trotzdem ist das Ausmass der Verwüstung unbeschreiblich. Der Ziegen-Fan-Club hat ganze Arbeit geleistet. Das Labor schaut aus, als hätte ein Hurrikan einen Kurzbesuch veranstaltet und man hätte meinen können, dass der Vornahme der Ziege Irma, Katrina oder gar Harvey sei, wenn sie denn ein Mann gewesen wäre.

Der Besserwisser löst sich von der Treppe, reibt sich die gerötete Wange und ruft laut übers Trümmerfeld: »Lasst mich mal. Als Krimi-Autor bin ich hier wohl der einzige Fachmann und weiss darum genau, was jetzt zu tun ist. Keiner verlässt den Saal bis die Polizei eingetroffen ist. Verstanden? Niemand!«

Jimi Weber gibt sich ebenfalls einen Ruck. Er klettert auf die Bar, hält die Hände wie einen Trichter vor den Mund und ruft: »Ruhe! Ruhe bitte! Ich bitte euch, Ruhe zu bewahren. Die Polizei ist schon da!«

»Was ist denn mit diesem Idioten los?«, schimpft die Vereinspräsidentin und zupft an ihrer verrutschten Bluse. »Warum spielt sich Jimi plötzlich so auf? Ist ihm denn nicht bewusst, dass er nur wegen seinem Beruf in dieser Jury sitzt.« Als PR-Beraterin weiss sie den Wert eines solchen Jury-Mitgliedes einzuschätzen. Aber was er jetzt veranstaltet geht eindeutig zu weit.

Dörig hat sich unbemerkt über die Treppe hinaufgeschlichen. Ein Bild der Leiche würde die Auflage sowie die Habenseite ihres Kontos erhöhen. Das Blitzlicht leuchtet die blutige Szene auf der Empore unbeschönt aus. Und was man im grellen Licht sieht, ist kaum zu glauben. Die Ziege ist nicht nur mit der Garrotte erwürgt worden, sondern dem Opfer ist von hinten eine Metallschraube ins Genick gedreht worden, wodurch der Tod augenblicklich eingetreten sein musste Man kann den Schraubenkopf gut erkennen, da die Ziege auf dem Bauch und mit dem Kopf zur Seite gedreht daliegt. Das Aussergewöhnliche neben den zwei Mordwaffen ist, dass in Mimoserichs Geschichte aus Zürichs dunkelster Vergangenheit das Opfer auf eben diese Weise ums Leben gekommen ist. Dies alles weiss Lea Dörig nicht, weil sie weder die Geschichte der Mimose noch einen anderen nominierten Krimi gelesen hat. Doch fragt sie sich, ob sie in diesem Fall von einem Doppelmord schreiben kann?

»Ich habe Ruhe gesagt. Das gilt ganz besonders auch für Sie!«, versucht Weber immer noch vom Tresen aus den Besserwisser zurück zu pfeifen. »Nur, weil Sie das Wort Polizist schon einmal geschrieben haben, glauben Sie von Polizeiarbeit eine Idee zu haben?« Schnauzt er ihn an.

»Sie und Polizist, da lachen die Ziegen! Haben Sie denn schon jemals eine Leiche gesehen? Sie sind doch nur ein Bürohengst, ein Schreibtischtäter! Was glauben Sie eigentlich warum Sie hier sind?«

»Passen Sie auf, alles was Sie sagen, kann vor Gericht gegen Sie verwendet werden.«

»Jetzt machen Sie sich nicht in die Hose und kommen wieder runter. Sie haben weder eine Ahnung noch entsprechende Befugnisse. Meinen Sie, ich hätte keine Ahnung wer alles in der Jury sitzt. Ich habe sie doch alle gegoogelt. Also halten Sie einfach die Klappe und lassen Sie mich hier endlich Ordnung schaffen. Ich habe alles im Griff, ich weiss wie das geht.«

»Und ich habe Sie gewarnt!« Weber nimmt all seinen Mut zusammen, hält den Atem an, klettert von der Bar und packt den Schreiberling, dreht ihm den Arm nach hinten, wie er es vor Jahren auf der Polizeischule gelernt hatte.

»Also bitte, das geht jetzt aber wirklich zu weit! Sie … Sie …!«, stottert der Besserwisser entgeistert.

Man hätte meinen können, dass sich jetzt, wo das Licht wieder an ist, der Saal ziemlich schnell leeren würde. Aber dem ist nicht so. Das Publikum hat sich wieder hingesetzt und wartet gespannt, wie das Theater weitergehen würde. Eine gelungene Inszenierung eines Literaturpreises. Endlich etwas Neues. So realistisch, so echt, so spannend. Einfach hervorragend.

Währenddessen findet hinterm Tresen eine private Party statt. Die Mimose hat den Gin entdeckt und der Moderator einen Zufluchtsort.

»Hast du gewusst«, das Sprechen fällt der Mimose schon sichtlich schwer, »dass ich meinen neusten Krimi gar nicht einreichen wollte? Ich meine, Perlen vor die Säue werfen und so.«

»Ist die wirklich tot da oben?« Der Atem des Moderators stinkt nach Whiskey.

»Weil, eh …! Ich habe nichts getan. Ich mach da nicht mehr mit. Das ist doch abgekartet. Das ist doch alles für die Katz. Darum!«

»Aber du hast sie doch umgebracht! Oh, ich meine mitgemacht, sonst wärst du wohl kaum hier?«

»Ich nicht. Nie mehr. Nur über meine Leiche. Aber meine Frau. Meine Frau hat gesagt, dass sie das mit mir nicht machen könnten und hat das Buch gegen meinen Willen eingereicht. Voilà!«

»Ist doch alles die gleiche Kulturscheisse oder?«, pflichtet ihm der Moderator lallend bei. Die beiden prosten sie sich zu und setzen die Flaschen an. Dass sie immer noch das Ansteckmikro am Kragen tragen und man ihr Gespräch über die Lautsprecheranlage mitverfolgen kann, haben beide nicht gewusst oder vergessen.

 

»Haben Sie Hasso, gesehen? Ich meine natürlich hier in der Laborbar nicht im Fernsehen.« Eine magere Frau mit der halben Drogerieauslage im Gesicht klammert sich an den Arm von Jasmine Sonderegger. Die aufgeklebten Nägel der Frau des Moderators graben sich tief in ihr Fleisch.

»Wieso, müsste er Gassi gehen?«

»Also bitte, das geht jetzt aber wirklich zu weit! Sie … Sie …!«