Züricher Krimipreis

Mord: preisgekrönt Teil 3

Während das Publikum über die Lautsprecher ungläubig den Dialog der beiden sich spontan angefreundeten Trinkkumpane hinter der Bar mitverfolgt und die Frau des Moderators zunehmend hysterisch nach ihrem Gatten Hasso schreit, tauschen Nora Bossung und Jutta Kleinhans wortlos einen Blick. Einen ganz kurzen nur, doch beiden Damen ist klar, dass ihnen in diesem Moment exakt derselbe Gedanke durch den Kopf schiesst.

Nora kann sich ein erwartungsfrohes Lächeln nicht verkneifen.

Keine Plakatwände an den Bahnhöfen, kein seitenlanger Bildbericht in der NZZ, keine Talkshow im Fernsehen und auch keine noch so ausgeklügelte Marketingkampagne können es mit dem Tod aufnehmen, das ist der Verlegerin Nora bewusst. Es gibt schlicht keine bessere PR für eine Autorin. Und wenn es dann noch Mord ist … Mit einem wohligen Seufzer lehnt sie sich auf ihrem Stuhl zurück. Von nun an braucht sie nie mehr verzweifelt bei den Zeitungen anzuklopfen und die Feuilletonchefs auf Knien zu bitten, doch endlich, endlich mal etwas über die Ziege zu bringen. Und nicht immer nur die sogenannte Hochliteratur zu berücksichtigen, Bücher, die – ihrer Meinung nach – in erster Linie durch das inflationäre Aufkommen von Kommas auf einer verblüffend geringen Anzahl Seiten bestechen. Nie mehr braucht sie sich bei den Jurymitgliedern des Zürcher Krimipreises mit selbst gebackenen Weihnachtskeksen, Pralinen vom Luxusconfiseur oder Umschlägen mit kleinen finanziellen Zuwendungen einzuschleimen. Keine Literaturveranstaltungen mehr, bei denen sie billigsten Prosecco schlürfend auf ihr Programm, ja manchmal sogar auf den immer noch kaum bekannten Kleinverlag aufmerksam machen muss.

Schnee von gestern. Von heute an würden alle die Ziege kennen und damit auch sie, Nora Bossung. Schon morgen würden die ersten Zeitungen voll mit Berichten sein. Wenn sie sich nicht irrt, hat sie vorhin in der ersten Reihe Lea Dörig vom Tagesanzeiger gesehen. Auch die Tagesschau käme nicht umhin, einen Beitrag über den spektakulären Mord zu senden, die Lifestylemagazine sowieso, für die war der Tod der Ziege ein gefundenes Fressen, vielleicht produzierte eine engagierte Journalistin einen Dokfilm und mit etwas Glück – der kühne Gedanke verschlug Nora beinahe den Atem – würde die Lebensgeschichte der Ziege in absehbarer Zeit sogar verfilmt. Womöglich sogar mit Melanie Winiger in der Hauptrolle!

Das würde den Verkauf auf jeden Fall ankurbeln! Bislang hat sich die Zahl der abgesetzten Bücher ungefähr in derselben Grössenordnung bewegt wie der Bekanntenkreis der Ziege. Überschaubar also, mit viel, viel Luft nach oben. Was vor allem am zickigen Getue der Ziege gelegen hat. Jemand wie sie hat nicht viele Bekannte. Umformulieren!, ermahnt sich Nora in Gedanken und korrigiert auf der Stelle das zickige Getue mit >unkonventionellem Charakter<. Über Tote äussert man sich nicht abfällig, deswegen muss sie sich für die zu erwartenden Interviews weitere beschönigende Begriffe zurechtlegen. Sie würde von einer >schillernden Persönlichkeit< sprechen und nicht von einer egozentrischen Kuh, die erwartete, dass sich alles nur um sie drehte, von einer >wortgewandten, fantasievollen Virtuosin< als Umschreibung der wüsten und selten jugendfreien Beschimpfungen, die sie periodisch zu hören bekam, wenn das neuste Buch wieder nur mit Mühe zweistellige Verkaufszahlen erreicht hatte. Sie würde sagen, dass die Ziege >eine Vision< hatte und nicht, dass sie überall reinredete, obschon sie wenig bis gar keine Ahnung hatte. Beim Titel des Buches, beim Cover, bei der Vermarktung. Vom Lektorat gar nicht zu sprechend. Die bedauernswerte Jutta Kleinhans, die dafür zuständig war, hat die letzte Phase vor dem Druck meist nur mit starken Beruhigungsmitteln überlebt und die endgültige Fassung des Textes jeweils halb sediert abgeliefert.

Nora fallen die unzähligen Kisten im Keller des Verlags ein, in denen die unverkauften Exemplare der letzten vier Romane lagern. Damit wird es bald vorbei sein. Innert Kürze wird sie bei der Druckerei die zweite Auflage des neusten Werks in Auftrag geben müssen und eine dritte ist doch sehr wahrscheinlich bei dem zu erwartenden Rummel. Und mit etwas Glück wird man dann auch auf mein restliches Verlagsprogramm aufmerksam, denkt Nora. All diese Kriminalromane, die von den Käufern unbeachtet irgendwo in den Regalen der Buchhandlungen versauern. Falls sie überhaupt vorrätig sind. Dabei haben sie alle nicht nur diesen momentan so beliebten regionalen Touch, sondern auch originelle, ausgeklügelte Titel, die sofort ins Auge springen, findet Nora. >Tod in Adlikon<, >Tösstaler Morde< oder ihr persönlicher Favorit: >Die Leiche im Glattzentrum<. Alles potenzielle Bestseller, vielleicht etwas unbedarft, manchmal gar holperig geschrieben, aber das spielt keine Rolle. Der ansteckende Enthusiasmus der Autoren und Autorinnen und die sehr detaillierten, teilweise seitenlangen Beschreibungen von Dorfbrunnen und Pizza Take-away, die an Stelle eines Plots in den Fokus gerückt werden, wiegen mangelnde Stilsicherheit und nicht ansatzweise vorhandenes Talent locker auf. Nora ist sich sicher, dass das Publikum diese Romane lieben würde. Wenn es denn endlich von deren Existenz erführe.

Sie schliesst kurz die Augen. Ihr und dem Verlag steht eine goldene Zukunft bevor, da ist sie sich ganz sicher. Wie viel der Unterschied zwischen einer zickigen und einer tote Autorin doch ausmacht!

Nora erinnert sich dunkel an einen Ausspruch, den irgendjemand nach dem Tod von Elvis gemacht hat. Ein äusserst cleverer Karriereschritt sei das gewesen. Dasselbe gilt für die Ziege. Es spielt keine Rolle mehr, ob sie den Krimipreis gewonnen hätte. Ihr Bekanntheitsgrad ist gerade im Begriff, durch die Decke zu gehen, und auch wenn sie selbst nichts mehr davon hat, gibt es genügend Leute, die sich darüber freuen.

 

Auf der Bühne brüllen sich Jimi Weber und der Besserwissen immer noch an, keiner denkt daran nachzugeben, wie das bei Männern im sogenannt besten Alter gern vorkommt. Ein letztes Aufbäumen, noch einmal den Macker raushängen lassen, das berauschende Gefühl von Testosteron im Blut, bevor es endgültig abwärts geht. Nur noch wenige Jahre trennen die beiden von Inkontinenz, pürierten Mittagsmenüs und Pflegerinnen, die viel zu laut auf sie einreden.

»Aber meine Herren!«, greift jetzt Jasmin Sonderegger energisch ein, die sich in der Zwischenzeit von der Busengrabscherei und ihrem Lachanfall erholt und mittels einiger, in rascher Abfolge  hinuntergestürzten Gin-Shots in eine wattige Gelassenheit katapultiert hat. »Bitte beruhigen Sie sich!«

»Ich will mich nicht beruhigen, so lange dieser unfähige …«, setzt Weber an, doch der Besserwisser fällt ihm sogleich ins Wort: »Passen Sie auf, was Sie sagen! Sie … Sie Knilch!«

»Knilch?«, japst Weber. »Wer in aller Welt sagt noch >Knilch<?«

»Sie sind ein Ignorant, Weber, ein Prolet wie er im Buch steht.«

»In Ihrem aber nicht. Da steht nur Blödsinn, schlecht bis gar nicht recherchierte Behauptungen«, japst Weber weiter.

»Wenn Sie noch einmal japsen …«

Erst mit der tatkräftigen Unterstützung einiger eilig zu Hilfe gerufener Zuschauer gelingt es, die beiden Streithähne zu trennen. Von jeweils zwei Begleitern eskortiert, werde sie in entgegengesetzte Richtungen von der Bühne geschleift.

Ihr empörtes Gezeter verstummt allerdings erst, als sich die  Präsidentin ein Mikrofon schnappt und sich ans Publikum wendet: »Geschätzte Damen und Herren, ich bitte kurz um Ihre Aufmerksamkeit. Der heutige Abend ist durch das tragische Ereignis etwas ausser Kontrolle geraten, was ich sehr bedauere. Die Polizei ist aber jetzt informiert und sollte in wenigen Minuten hier in der Laborbar eintreffen. Man hat mich gebeten, niemanden hinauszulassen. Denn …« Die Sonderegger legt eine dramaturgisch effektvolle Pause ein. »… es ist anzunehmen, dass der Mörder immer noch unter uns weilt.«

Das Publikum schnappt synchron nach Luft, doch nach der ersten Schrecksekunde bricht das Chaos erneut aus.

»Ruhe!«, befiehlt die Sonderegger und kämpft gegen den Gin-Nebel an, der immer wieder hartnäckig von rechts in ihr Blickfeld wabert. »Wir müssen jetzt unbedingt Ruhe bewahren!«, fordert sie mit ihrer strengsten Stimme, und das Publikum folgt den Anweisungen, wenn auch sichtlich widerwillig.

Um die Zuschauer abzulenken, bittet sie die Musiker, die zwischen der Vorstellung der einzelnen Autoren hätten aufspielen sollen, auf die Bühne. Sofort setzt das Duo zu irgendetwas an, das nach Jazz und Tango klingt, denn Jazz und Tango kommen bei Krimiveranstaltungen immer gut. Während die beiden dafür sorgen, dass die Stimmung nicht in den Keller rutscht, nickt Nora Bossung ihrer besten und einzigen Lektorin verschwörerisch zu und fordert sie auf, ihr zu folgen, bevor sie sich durch die Stuhlreihen Richtung Bar kämpft. Doch Nora hat keineswegs vor, den Verlust ihrer nominierten Autorin mit Alkohol zu feiern, sondern steuert geradewegs auf die Treppe zu, die ins obere Stockwerk führt. Jasmin Sonderegger hat an deren Fuss zwei Jurymitglieder als Wachposten positioniert, doch davon lässt sich Nora nicht einschüchtern.

»Sie war nicht bloss eine Autorin für mich, nein, sie war eine Freundin«, schluchzt sie und stellt zu ihrer eigenen Verwunderung fest, dass ihre Augen feucht werden. »Eine warmherzige Persönlichkeit, die eine schmerzliche Leere in meinem Herzen hinterlässt.«Und dafür hoffentlich bald der Leere auf meinem Konto ein Ende setzen wird, denkt Nora und beinahe wäre ihr ein übermütiges Kichern entschlüpft.» Lasst mich ein letztes Mal zu ihr, damit ich mich von ihr verabschieden kann. Ein stiller Augenblick, wie wir sie früher gerne teilten.«

Sichtlich gerührt winken die beiden Wachen Nora und Jutta durch. Oben angekommen, verzieht Nora beim Anblick der Ziege das Gesicht. Kein schöner Abgang, aber in Gedanken formuliert sie bereits den Nachruf, den sie auf der Webseite des Verlags hochzuladen gedenkt.

»Sie wurde erdrosselt, doch in ihrem Nacken steckt auch eine Schraube«, stellt Jutta fest, während sie sich über die Ziege beugt, und in ihrem Blick spiegeln sich zeitgleich Abscheu und morbide Faszination.

Mit der Schuhspitze hebt sie den linken Arm der Leiche an. Und entdeckt die Lache getrockneten Blutes, die die Bluse der Ziege an den Boden klebt.

»Was ist das denn?«, flüstert Nora und gemeinsam drehen sie die tote Autorin zur Seite. Ein gerader Schnitt vom Brustbein bis zur Scham lässt den Torso der Ziege aufklaffen.

Entsetzt stolpert Nora rückwärts und schlägt sich die Hände vor den Mund, während Jutta eine leiser, aber lustvoller Schrei entfährt. Das ist sogar besser als im Roman!, ist ihr erster Gedanke, als sie erkennt, dass alle Organe fehlen. Besser als im Roman des Besserwissers, den sie natürlich gelesen hat. Denn dort wurde das Opfer auch aufgeschlitzt und ausgeweidet.